Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte nimmt Beschwerde lärmbetroffener Bürger an
Rechtsanwaltskanzlei von Raumer, Berlin, 22. Dezember 2020
Am 11. Dezember 2020 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Beschwerde in der Sache Irene Schüttke u.a. Nr. 8422/19 zu den Nachtflugregelungen am neuen Berliner Hauptstadtflughafen BER angenommen und entschieden sie der Bundesregierung mit einer Aufforderung zur Stellungnahme zuzustellen. Das geschieht nur in den Fällen, in denen der Straßburger Gerichtshof nach sorgfältiger Prüfung eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) für möglich erachtet. Erfahrungsgemäß haben daher die wenigen Beschwerden gegen die Bundesrepublik Deutschland, die der EGMR annimmt erhebliche Erfolgsaussichten. Die Zustellungsentscheidung des EGMR ist dieser Pressemitteilung beigefügt und wird am 11. Januar 2021 auf der Website des EGMR unter Hudoc veröffentlicht werden.
Die drei Beschwerdeführer in dieser Sache, die gemeinsam mit anderen Betroffenen zuvor mit ihren Beschwerden beim Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit dessen Urteil vom 13. Oktober 2011 – BVerwG 4 A 4001/10 und beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit dessen Beschluss vom 02. Juli 2018 – 1 BVR 612/12 gescheitert waren, hatten mit ihrer Beschwerde in Straßburg insbesondere gerügt, dass sie seit der Einführung des § 8 Abs. 1 S. 3 Luftverkehrsgesetz (LuftVG) am 01. Juni 2007 keine Möglichkeit mehr hatten, ihnen vorliegende neuste lärmmedizinische Erkenntnisse im Planfeststellungsverfahren zu den Nachtflugregelungen am BER vorzutragen, nach denen sie unzumutbarem nächtlichen Fluglärm ausgesetzt werden. Das BVerwG und das BVerfG waren davon ausgegangen, dass diese neusten lärmmedizinischen Erkenntnisse nicht zu berücksichtigen waren, weil nach neuer Gesetzeslage nur noch die in § 2 Abs. 2 Fluglärmgesetz (FluglärmG) festgelegten Lärmgrenzwerte maßgeblich seien.
Nach der Auffassung des auf das Recht der EMRK spezialisierten Berliner Rechtsanwalts Stefan von Raumer, durch den die Beschwerdeführer beim EGMR vertreten werden, verletzt das die Rechte der Beschwerdeführer und einer Vielzahl anderer Betroffener aus Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 8 (hier: staatliche Schutzpflicht vor unzumutbaren Umweltbeeinträchtigungen) und Art. 13 EMRK (Recht auf ein effektives Rechtsmittel gegen Verletzungen der EMRK). „Diese Vorschriften der europäischen Menschenrechtskonvention gebieten auch eine individuelle und aktuelle Berücksichtigung aller lärmmedizinisch relevanten Umstände in einem fairen und effizienten Rechtsschutzverfahren gegen einen Planfeststellungsbeschluss zu einem lärmintensiven Vorhaben“ meint von Raumer. Die Festsetzung gesetzlicher Lärmgrenzwerte im FluglärmG gewährleiste schon deswegen keinen hinreichenden Schutz, weil der Gesetzgeber nach § 2 Abs. 3 dieses Gesetzes nur alle zehn Jahre von der Bundesregierung über veränderte lärmmedizinische Standards unterrichtet werde. „Das berücksichtigt die aktuelle dynamische Entwicklung in der Lärmwirkungsforschung nicht hinreichend“ so von Raumer. Auch sei ein effizienter Rechtschutz im Sinne der EMRK gegen unzureichende Lärmgrenzwerte im FluglärmG nicht gegeben, weil gegen dieses Gesetz nur das BVerfG angerufen werden könne, das nach dessen eigener ständiger Rechtsprechung wegen des weiten, verfassungsgerichtlich nicht überprüfbaren Entscheidungsspielraums des Gesetzgebers solche Werte allenfalls in Fällen offensichtlicher Willkür in Frage stellen könne. „Damit können in deutschen Planfeststellungsverfahren zu lärmintensiven Vorhaben über Jahre hinweg unzureichende Lärmgrenzwerte zur Anwendung kommen, gegen die auch dann nicht effektiv gerichtlich vorgegangen werden kann, wenn sie längst nicht mehr den weltweit aktuell anerkannten lärmmedizinischen Standards entsprechen“ sagt von Raumer. All das habe sogar dazu geführt, dass selbst die Rüge seiner Mandanten in deren Verfahren keine Berücksichtigung gefunden hätte, dass die „Night Noise Guidelines for Europe“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Oktober 2009 bei den Nachtflugregelungen des BER ignoriert wurden.
Im Falle eines endgültigen Erfolges der Beschwerdeführer würde ein Urteil des EGMR, das die Verletzung auch nur eines der mit der Beschwerde gerügten Artikel der EMRK feststellt zu einer Wiederaufnahme des Planfeststellungsverfahrens zur Nachtflugregelung am BER führen. In diesem wären dann die Planfeststellungsbehörde und falls es dann noch zu einem Gerichtsverfahren kommen sollte auch alle deutschen Gerichte einschließlich dem BVerfG an die Entscheidung des EGMR gebunden. Da eine Ursache des mit der Beschwerde gerügten Problems eine gesetzliche Norm im LuftVG ist, könnte eine Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland beim EGMR aber auch dazu führen, dass der deutsche Gesetzgeber, der ebenfalls an die Urteile des EGMR gebunden ist, das fragliche Gesetz ändern müsste. Solche Gesetzesänderungen aufgrund von Urteilen des EGMR hat es in Deutschland in den vergangenen Jahren mehrfach gegeben.
Rechtsanwalt Stefan von Raumer ist spezialisiert auf Beschwerden zum BVerfG und zum EGMR, Mitherausgeber und einer der Autoren des im NOMOS Verlag erschienenen Kommentars zur Europäischen Menschenrechtskonvention Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer „EMRK“, Vorsitzender und Europabeauftragter des Menschenrechtsausschusses und Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins (DAV), Berlin sowie Vorsitzender des Human Rights Committee des Council of Bars and Law Societies of Europe (CCBE), Brüssel, des Dachverbandes der europäischen Anwaltsorganisationen und Mitglied der ständigen Delegation (Standing Committee) des CCBE am EGMR in Straßburg.
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